Hier zeige ich dir eine Auswahl meiner Texte; die immer auch zu einer Illustration gehören.
„Frau Sturm, wie geht es Ihnen auf einer Skala von 1 bis 10?“,
fragte mich die Therapeutin unseres Kindes letzte Woche im
Elterngespräch.
Ich konnte keine Antwort auf diese Frage geben. In absoluten
Zahlen zu denken, fällt mir sehr schwer.
„Darf ich stattdessen eine Farbe nennen?“, fragte ich sie. Und
dann war die Antwort ganz eindeutig.
Ich hab manchmal Momente, in denen ich denke, dass das, was ich hier mache, so unbedeutend ist. Ich pflege beruflich keine kranken Menschen oder kümmere mich um 24 Kindergartenkinder oder tue sonst etwas gesellschaftlich Tragendes.
Aber dann bekomme ich Nachrichten von euch, die mir von Monaten
im Krankenhaus erzählen, in denen ein Motiv von mir auf dem
Nachtisch stand.
Vom endlich-Verstehen, das durch Bilder angebahnt wurde.
Geschichten von Gefühlen, die durch Illustrationen Ausdruck
bekamen.
In Worte gegossener Ausdruck dessen, wie gut Kunst tun kann.
Und das ist kostbar, ohne dass ich es in Relation setzen muss
zu dem unendlichen und unverzichtbaren Wert, den all die
gesellschaftlich essenziellen Berufe und gesellschaftlich
essenziellen Menschen (Eltern! Pflegende Angehörige!)
haben.
Ich lerne, das nebeneinander stehen zu lassen. Ich kann das
andere nicht tun und das hier schon. Und beides hat seinen
Platz.
Meine Bilder erschließen etwas, das nicht kognitiv erfasst werden kann. Das keine Skala von 1 bis 10 kennt. Aber mit Farben Worte findet.
Ich fühl mich sehr privilegiert, das hier tun zu dürfen. Und
das größte Geschenk mach ich mir selbst.
Gestern saß ich lange Abend vor der Illustration, die ihr oben
seht.
Und dann war mein Herz leichter.
Dunkelblau und gehalten.
Als ich dieses Motiv veröffentlicht habe, habe ich dutzende Nachrichten bekommen von Menschen, die diesen Satz so sehr fühlen. Dass sie gerne einen Banner damit hätten, um ihn über ihr Haus zu spannen. Ob ich ihn in A1 drucken lassen könne. Und OH, ich fühle ihn auch SO sehr. So. so. so. sehr.
Alles bisschen viel. Ja. Alles bisschen viel. Die Sache mit den Kindern und den Ansprüchen an mein Elternsein. Dass für Kinder zu sorgen, allzu oft - und manchmal ganz besonders - auch bedeutet, sich um sie zu sorgen. Termine wahrzunehmen. Abzupuffern. Nie zu schlafen, oder zumindest nie genug. Und ach ja, der Haushalt. Mich gleichzeitig auch selbst zu sehen und das, was ich brauche. Zu arbeiten. Aufzuarbeiten, auch. Zu denken, ziemlich viel. Zu fühlen, noch mehr. Weltschmerz auszuhalten. Überhaupt echt viel auszuhalten. Und oh, Partnerin bin ich außerdem noch. Freundin. Aktivistin. Und 100 andere Rollen.
Es ist laut in meinem Leben und es ist laut in meinem Kopf. Wild. Und bunt.
Es ist alles bisschen viel.
Wie viele Menschen fühlen so.
Irgendwie ist das traurig.
Und gleichzeitig IST es einfach. So, wie es ist.
Ganz wertfrei. Es ist bisschen viel, alles. Und wir machen das
gut, alle miteinander. Ihr macht es gut.
Ich mag die Spannung zwischen den Wörtern „bisschen“ und „viel“. Eigentlich passen sie nicht zusammen, denke ich. Und auch doch. Again einfach ein Teil von Ambiguitätstoleranz, vielleicht.
Ich hab „Alles bisschen viel“ im Atelier als Kunstdruck über das Sofa gehängt, auf dem ich (viel zu selten) meinen Mittagsschlaf mache. Und ich fühl mich so verstanden von diesen drei Wörtern. Ohne erhobenen Zeigefinger. Aber mit der klaren Ansage, dass ein Mittagsschlaf wohl mehr als angebracht wäre. Und gut zu mir zu sein. Alles bisschen viel.
Hoffnung gibt mir das Unbequeme.
Wenn wir uns füreinander einsetzen; auch, wenn es uns
anstrengt.
Wenn wir hinter unseren Werten stehen; auch, wenn es uns nicht
beliebt macht.
Wenn wir einander zuhören; auch, wo es ungemütlich ist.
Wenn wir solidarisch sind mit denen, die es brauchen; auch,
wenn es uns etwas kostet.
Wenn wir Konflikte bereinigen, auch dann, wenn es anstrengend
ist.
Wenn wir Farbe bekennen; auch dort, wo die Dinge in Brauntönen
gefärbt sind.
Wenn wir uns hinterfragen (lassen); auch dann, wenn es am
Weltbild rüttelt.
Wenn wir Grenzen respektieren; auch da, wo wir sie gern
überschreiten würden.
Wenn wir Schmerz miteinander aushalten; auch, wenn es
wehtut.
Wenn wir Müll aufsammeln; auch, wenn wir stattdessen Blumen
pflücken könnten.
Hoffnung gibt mir das Unbequeme.
Und wenn wir alle miteinander unbequem sind, können wir es uns
gut machen.
Eine kleine Frage war es, die sich im vergangenen Jahr immer wieder leise flüsternd in meinen Kopf schlich.
„Was bringt es denn?“
Leise schlich sie sich in meinen Kopf, als ich während der Einschlafbegleitung der Kinder die Nachrichten las. „Was bringt es denn“, flüsterte die Frage, „Kinder friedvoll in eine Welt zu begleiten, die ganz und gar nicht friedvoll ist?“
Leise schlich sie sich in meinen Kopf, als ich um die Nachhaltigkeit meiner nie-gut-genugen Konsumentscheidungen rang. „Was bringt es denn“, flüsterte die Frage, „wenn du ringst, während letztlich dein Handeln ganz und gar irrelevant ist, weil es vor allem ein Umdenken von Konzernen und Gesetzen braucht?“
Leise schlich sie sich in meinen Kopf, als ich investierte in Inklusion, Gerechtigkeit und Verständigung. „Was bringt es denn“, flüsterte die Frage, „dich da so verletzlich zu machen und zu investieren, wenn am Ende doch wieder die Vorurteile stärker sind?“
Und so schlich die Frage und flüsterte und ach - übel nehmen
kann ich es ihr nicht.
Manche Fragen lösen sich nicht, wenn wir versuchen, sie aus
unserem Kopf zu scheuchen. Manche Fragen brauchen eine Antwort.
Und eine Illustration, vielleicht.
Deswegen hab ich ihr ein Bild gemalt, meiner kleinen großen
Frage: Es ist mein Jahresmotiv 2024; so wichtig ist es mir.
Liebe kleine Frage, schau her.
„Gutes säen“, so heißt mein Bild.
Und du kannst darin lesen, was du lesen möchtest.
Vielleicht siehst du eine kleine Pflanze, die nur allzu bald
von einem herannahenden Lastwagen überrollt werden wird.
Aber vielleicht: vielleicht siehst du auch etwas ganz
Anderes.
Und ganz unverbindlich lass ich dir eine kleine Gießkanne da.
Wer weiß, vielleicht kannst du sie ja mal brauchen.
An Tagen, an denen ich mittags mit dem Bus zum Kindergarten
fahre, steigt an der zweiten Haltestelle manchmal eine Frau
ein. Jedes Mal denke ich, wie wunderschön sie ist.
Ihr feines, schütternes Haar umrahmt ihr Gesicht wie
schimmernde Seidefäden. Ihre nachdenklichen Augen sind tief wie
zwei Bergseen, die das ganze Leben in sich spiegeln. Und
obwohl sie über ihren Rollator gebückt ist und immer wieder
zittert, ist alles an ihr aufrecht.
Jedes Mal schaue ich die Frau an und denke, wie wunderschön
Menschen sind. Und wie wenig das am Alter oder an
vermeintlichen Schönheitsidealen festzumachen ist.
Vor einigen Wochen spürte sie meinen Blick und schaute
irritiert an sich herunter. „Ist irgendwas?“, fragte sie etwas
besorgt. Ich zögerte, was ich antworten sollte. Und entschied
mich für die Wahrheit. „Sie schauen so anmutig aus. Alles an
Ihnen leuchtet so“, sagte ich. Ein Strahlen ging über ihr
Gesicht. „Das hat mir lange niemand mehr gesagt“, meinte
sie.
Seitdem tauschen wir jedes Mal ein Lächeln aus, wenn wir
einander im Bus sehen. Und immer denke ich, dass ich so etwas
viel häufiger tun möchte. Anderen Schönes sagen. Komplimente
machen. Auch ohne, dass mir das Gegenüber den Ball
zuspielt.
Frieden im ganz Kleinen. Liebe. Ohne Anlass oder
Gegenleistung.
Sogar im Bus zum Kindergarten.
Wir hatten mal richtig schöne Stoffwindeln. Wollgewebt innen,
außen mit wunderschönen Mustern. Viel zu schade fast, um eine
Hose darüber anzuziehen. Manche davon hatten wir gekauft, viele
hatte ich aus alten Wollpullovern selbst genäht. Oh, wie schön
sie waren. Ich sah in meiner Vorstellung meine Babys darin auf
dem Boden herumkullern und streichelte meinen schwangeren
Bauch.
Wirklich und wahrhaftig wurden es dann zwei Babys; und wirklich
und wahrhaftig wurden es zwei Babys in wunderschönen
Stoffwindeln. Doch noch bevor sie drei Kilo wogen, stolperten
wir in einen Lockdown, der mir die Wahl ließ, Stoffwindeln zu
waschen oder ab und zu auf Toilette zu gehen - und entschied
mich so oft für Toilettengang statt Wäscheberge, dass die
Stoffwindeln Stockflecken bekamen. Oh, wie ich um all die
Müllberge wusste, die diese wunderschönen Stoffwindeln
vermeiden hätten können. Um Vorteile für Gesundheit und
Geldbeutel und all das. Und gleichzeitig kauften wir von diesem
Zeitpunkt an Wegwerfwindeln. Verursachten vermutlich hunderte
Kilo Müll. Und ermöglichten uns gleichzeitig, ein Stück
Ressourcen zurück zu erlangen.
Diese beiden Wörter, das „und“ ebenso sehr wie das
„gleichzeitig“, haben unsere vergangenen 4 Jahre so sehr
geprägt wie wohl keine anderen.
Als ich gern länger Elternzeit gehabt hätte - und die
Zwillinge gleichzeitig früher als geplant in der Kita
anmeldete, um nicht auszubrennen.
Wo ich um gesunde Ernährung wusste - und gleichzeitig ein Kind
hatte, das nur sehr selektiv essen konnte.
Wenn es nie genug war - und gleichzeitig immer genug.
In vielen hundert Kleinigkeiten des Elternalltags begegnete mir
das „und gleichzeitig“; aber nicht nur dort. Wenn wir darauf
achten, begegnen sie uns überall im Leben, die scheinbaren
Gegensätze, deren dazwischenliegende Lücke mit einem „und
gleichzeitig“ gefüllt werden könnte.
Wenn wir aushalten, dass sich im GLEICHZEITIG das Schwarz und
Weiß des Lebens begegnet und Graustufen entstehen dürfen, dann
werden wir
- handlungsfähig: weil wir scheinbare Gegensätze und
Unperfektion aushalten und es mehr gibt als ein „Ganz oder Gar
nicht“. (z.B. beim Thema Nachhaltigkeit)
- dialogfähig: weil wir die Perspektive anderer ernst nehmen,
auch wenn sie uns herausfordert und eine Spannung mit unserer
eigenen erzeugt. (Und z.B weniger schnell von uns auf andere
schließen - weil das Ernstnehmen, nicht das Verurteilen, an
erster Stelle steht.)
- reflexionsfähig: weil wir keine einfachen Antworten auf
komplexe Sachverhalte erwarten und scheinbare Widersprüche
aushalten (eine Sache, die der Social Media Stimmung z.B. beim
aktuellen Kriegsgeschehen sehr gut tun würde).
Das „und gleichzeitig“, ist mir so wichtig, dass es in den
letzten Jahren auf vielen meiner Illustrationen Raum bekommen
hat.
Seit letztem Jahr sind diese beiden Wörter sogar für immer auf
meinem Arm.
Keine Ahnung, ob mir das in 30 Jahren noch so gut gefällt wie
heute - und gleichzeitig ist es für jetzt die richtige
Entscheidung.
Hallo Ambiguitätstoleranz.
Ich komme nach Hause und betrete unseren Hausflur, der aussieht wie ein immerwährender Kindergeburtstag. Viele Schuhpaare, wild in alle Ecken verteilt. Spielplatzladungen voller Sand, herausgerieselt aus Schneeanzügen. Einsame durchnässte Handschuhe, deren Gegenstück von zweijährigen Dieben gekapert wurde.
Ich folge der Spur der Handschuhe, lege sie gedankenverloren auf die Heizung und mein Blick fällt auf die kleine Walnusskerze, die sich, übriggeblieben von unserem Kerzengießnachmittag, aufs Fensterbrett verirrt hat. Ich nehme sie in die Hand und betrachte das Wachs, das leicht schief im Nussschiffchen liegt. Ich hab mich noch nicht getraut, sie anzuzünden, die Kerze. Sie würde ja nur so kurz brennen. Überhaupt ist sie ganz und gar nicht leistungsoptimiert.
Und plötzlich wird mir klar, dass genau das der Grund ist, warum ich jedes Jahr wieder Walnusskerzen gieße: sie sind nicht effizient. Und das mag ich.
Ich mag es, Wachs zu sammeln mit der Vorstellung „du darfst
nochmal etwas Neues werden“.
Ich mag es, Walnussschalen ganz langsam und vorsichtig zu
knacken, die Hälften behutsam zu trennen, wissend, wie
zerbrechlich sie sind.
Ich mag es, aufmerksam das gesammelte Wachs zu schmelzen mit
dem Bewusstsein, dass ich nichts anderes parallel tun
kann.
Ich mag es, das flüssige Wachs in die Nussschalen einzugießen
und nicht genau in der Hand zu haben, wie und wohin es
fließt.
Zu beobachten, wie sich langsam ein dünner Film auf der
Oberfläche der Kerze bildet und den Docht umschließt, sodass er
nicht mehr umfällt.
Zu wissen: Wenn wir diese Kerze jetzt anzünden, werden wir hier
sitzenbleiben und sie betrachten, denn ihre Flamme brennt nicht
lange. Aber das war es wert. Es ist nicht leistungsoptimiert.
Aber das war es wert. Und es hat einen Wert, auch wenn es noch
so klein und von kurzer Dauer ist.
Ich glaube, genau das ist oft mein Blick auf die Welt. Und das
ist auch ein Stück Advent für mich.
(Text und Illustration aus meinem Buch „Hoffnung, die leuchtet“)
Als ich mit meinem Fahrrad an der Ampel stehe, hält der Fremde neben mir und schaut uns verheißungsvoll an. „Ich hab was gesammelt“, lächelt er und drückt mir und den Kindern jeweils eine glatte, weiche Kastanie in die Hand.
Ein random act of kindness.
Als ich am Bahnhof im strömenden Regen stehe; in meiner Hand ein A3-Umschlag mit wichtigen Papieren; Busse und Taxis nicht verfügbar; zögert die Fremde nicht lange. „Ich fahr Sie zum Hotel“, sagt sie und öffnet mir ihre Autotür und ihr Herz. „Es ist überhaupt gar kein Problem.“
Ein random act of kindness.
Als ich an der Supermarkt länger brauche - VIEL länger - lächelt mich die Person hinter mir an und sagt: „Wissen Sie was, wir haben alle Zeit der Welt. Und wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen gern; darf ich?“
Ein random act of kindness.
Als ich mein Fahrrad ausleihe, meint der Verkäufer zu mir: „Wenn Sie krank sind, dann schenke ich Ihnen einen der Verleihtage. Und Sie bekommen kostenlos einen Fahrradkorb. Passen Sie gut auf sich auf.“
Ein random act of kindness.
All das sind Begegnungen der letzten Tage, die mein Herz so
warm gemacht haben.
Die mich hoffen lassen auf eine Welt, für die vielleicht das
Achtsame, das nicht Aufrechnende, das Aufeinanderschauen
vielleicht doch noch nicht verloren ist.
Und lasst uns doch mehr solcher Begegnungen verschenken, wenn es möglich ist: einen Schritt mehr gehen als unbedingt nötig. Unabhängig davon, wer die andere Person ist oder was sie uns nützen könnte.
Ich sammle sie wie kleine Schätze in meiner Jackentasche; diese Begegnungen. Und wenn ich sie brauche, hol ich sie hervor: Und erinnere mich an den Tag, an dem wir an der Ampel ganz glatte, weiche Kastanien geschenkt bekamen.
_____
Die Illustration stammt aus meinem Buch „Hoffnung, die
leuchtet“. Du findest sie bei mir auch als Postkarte.
Der ursprüngliche Text dazu ist ein Gedicht, hat einen anderen
Inhalt und heißt „Ich sammle Hoffnung wie Kastanien“.
_____
Danke, A., für unser Gespräch letzte Woche. Und dass du mich
erinnert hast an diese 4 Wörter, die mir nicht mehr präsent
waren.
Danke, dass du den nachfolgenden Fahrzeugen Kaffee im Drive-in
schenkst und dass du eine dieser Begegnungen bist.
Früher war mir Romantik so wichtig. Und als wir vor 15 Jahren zusammenkamen, da dachte ich, all das sei romantisch.
Wenn du mir Blumen schenkst.
Wenn du mir Briefe schreibst.
Wenn du mit mir ins Kino gehst.
Wenn du mir einen Ring kaufst.
Wenn du mir einen Heiratsantrag machst.
Und ich hab erwartet, dass du diese Dinge tust. Weil ich einen Partner wollte, der romantisch ist. Und der dem Bild, was ich all die Jahre durch Serien und Bücher transportiert bekommen hatte, entsprach.
Doch ein leidenschaftlicher Romantiker warst du nicht. Bist du
nicht.
Das mit dem Kino passt, ja.
Aber deine Blumensträuße hab ich immer eher kritisch beäugt. Irgendwann tat es mir so leid, dass dafür Blumen sterben müssen und ich hab dich gebeten, mir keine mehr zu schenken.
Und Briefe waren nie deins. Ich weiß sehr zu schätzen, dass du das für mich getan hast, obwohl es dir keine Freude bereitet hat.
Du hast mir damals keinen Ring geschenkt, sondern einen Gutschein zum Ring-selbst-aussuchen. Weil du nichts falsch machen wolltest.
Und dein Heiratsantrag war süß. Aber ehrlich gesagt war das Essen nicht mein Fall und naja, es war nicht unbedingt der romantischste Film des Jahres.
Aber als ich gestern am Bahnhof ankam - nach 4 anstrengenden
Tagen alleine mit den Kindern und 7 Stunden Zugfahrt - da
standest du da. Hast mir den Carsharingschlüssel in die Hand
gedrückt, die Kinder mit zum Bus genommen und mir gesagt, ich
sei für heute raus und sollte tun, was ich jetzt brauchen
würde.
Ich hatte dir gesagt, ich würde mit den Kindern bis nach Hause
fahren. Aber du wusstest, es wäre mir zu viel.
Und ich saß im Auto und hab kurz geweint vor Dankbarkeit darüber, dass du mich siehst. Und dachte, wie romantisch du bist, eigentlich.
Wenn du mir zwar keine Blumen mitbringst, aber stattdessen ungefragt mit neuen Kindersocken, Windeln und Nachschub für meine Versandetiketten heim kommst.
Wenn du mir statt Briefen immer wieder den Zoom-Link schickst, der seit einem Jahr wöchentlich derselbe ist und den ich seit einem Jahr wöchentlich vergesse.
Wenn du zwar ganz manchmal mit mir einen Film schaust (den wir aber immer über viele Abende stecken müssen), aber meistens mit mir abends über Anträgen, Fragebögen und Formularen brütest. Und wir, wenn wir damit fertig sind, über Videos der süßesten Kinder der Welt* versinken. (*unsere)
Wenn du mir statt eines Ringes Noise Cancelling Kopfhörer schenkst, weil du weißt, dass mir oft alles zu laut ist.
Wenn du mir statt eines Hochzeitsantrages die Frage stellst, ob ich nicht noch über Nacht auf der Buchmesse bleiben möchte, damit ich mehr davon habe.
Und ich lieb dich für all das. Längst hab ich verstanden, dass
Romantik viel mehr ist; ganz anders sein kann, als das, was ich
damals in Filmen und Serien darüber gelernt habe. Längst würde
ich dich auch ohne Gedöns heiraten.
Und wenn du mich am Bahnhof abholst: dann ganz besonders.
Pflegende Elternschaft ist, als würde ich radfahren in einer
Welt, die auf Autos ausgelegt ist.
Pflegende Elternschaft ist, mit viel Unterstützung die 25 km/h
zu schaffen, während alle anderen locker die achtfache
Geschwindigkeit erreichen.
Pflegende Elternschaft ist, im toten Winkel von anderen zu
fahren.
Pflegende Elternschaft ist, manchmal von Menschen besucht zu
werden, die ein Stück mitradeln, aber dann wieder auf ihr Auto
umsteigen.
Pflegende Elternschaft ist, Umwege nehmen zu müssen und dabei
Erfahrungen zu machen, die denen im Auto fremd sind - im
Schönen; im Schweren.
Pflegende Elternschaft ist, nicht in die Innenstadt zu kommen,
weil Autos alles zuparken.
Pflegende Elternschaft ist, so langsam zu fahren, dass ich alle
bunten Blumen am Wegesrand wahrnehme.
Pflegende Elternschaft ist, auf einer vierspurigen Straße ohne
Fahrradweg fahren zu müssen.
Pflegende Elternschaft ist, manchmal Andere zu treffen, die
kein Lastenrad haben, sondern auf einem klapprigen Gestell und
mit Kind auf dem Gepäckträger unterwegs sind, und sich dann
ziemlich privilegiert zu fühlen.
Pflegende Elternschaft ist, Dinge nie erreichen zu können, weil
sie sehr weit entfernt sind.
Pflegende Elternschaft ist, Muskeln zu trainieren, von denen
die im Auto gar nicht wissen, dass sie existieren.
Pflegende Elternschaft ist, die kostbare Fracht vorn im
Lastenrad mehr zu lieben als alles Andere. Und zu spüren, dass
Liebe trotzdem keine unendlichen Kräfte generiert.
Als ich letztes Jahr am Vorabend des ersten Advents mit meinem
Fahrrad in die Stadt fuhr, traf ich ihn.
Ich war unterwegs, um einen Weihnachtsbaum für das Zimmer
unseres Ältesten zu besorgen. Seit vielen Jahren liebt er die
Tradition, zum ersten Advent ein eigenes kleines Tännchen vom
Wichtel geschenkt zu bekommen. Dieses Jahr hatten wir es
vergessen und ich war spät dran.
Und als ich dabei war, den kleinen Baum in meinem Fahrradkorb
zu heben, stand er plötzlich vor mir und drückte mir ein
kleines Päckchen in die Hand.
„Heute nicht für die Kinder“, sagte er und lächelte mich unter
seiner Schiebermütze an. „Heute für dich.“
Wir kannten uns bereits. Schon mehrfach hatten wir solche
Päckchen von ihm bekommen. Manchmal mit Schokolade, meistens
mit Büchern. Er sucht sie in den öffentlichen Bücherregalen in
der Innenstadt zusammen, wo Menschen Bücher hineinstellen
können, die sie weitergeben möchten. Die schönsten Exemplare
sammelt er und verpackt sie liebevoll in altes Papier, um sie
auf der Straße zu verschenken.
Wie aus dem Nichts taucht er auf. Spricht nie viel. Und
verschwindet wieder. Seinen schönen Namen kannte ich mal und
habe ihn wieder vergessen.
Bisher waren es Kinderbücher gewesen, die er uns gab.
Diesmal nicht. Diesmal zog er einen Gedichtband von Mascha
Kaléko aus seinem bis oben hin gefüllten Rucksack.
„Warum machst du das immer?“, fragte ich ihn. „Warum
verschenkst du Dinge? Du kennst mich doch gar nicht.“
„Weil ich in einer freundlichen Stadt wohnen möchte“, sagte er,
stieg auf sein Fahrrad und fuhr mit seiner Schiebermütze davon.
Ich saß bei ihr in der Küche und war sehr wütend.
„Ihr habt euch doch so lieb“, sagte sie und stellte die
Reibekuchen auf den Tisch. „Was könnt ihr tun, um wieder gut
miteinander zu sein?“
Ich rief sie von der Schule aus an und fragte, ob sie mich
wegen Bauchweh abholen könnte.
„Du hast gar kein Bauchweh, stimmt’s?“, sagte sie, als ich bei
ihr im Auto saß. „Du musst das nicht erfinden, damit ich dich
abhole. Es ist doch ok, einfach mal so eine Pause zu brauchen.”
Ich verlor den Haustürschlüssel und erwarte, dass sie schimpfen
würde.
„Sowas passiert einfach“, sagte sie und nahm mich in den Arm.
„Wir finden eine Lösung.“
Ich heiratete und es war ganz anders, als sie es für sich
selbst entschieden hätte.
„Das wird schön“, sagte sie, „ich bin für dich da.“ Sie wurde
meine Trauzeugin.
Ich kaufte mir ein Buch, um Erinnerungen und Gespräche mit ihr
festzuhalten.
„Was wünschst du dir für die Welt, Oma?“ fragte ich sie, als
wir auf Seite 29 waren. Dort hab ich ihre Antwort
aufgeschrieben: „Dass alle Menschen in ihrem Leben so viel
Verständnis, Vergebung, Hilfe und Liebe erfahren, dass keiner
mehr einen Krieg anfängt. Mein Herz schmerzt beim Gedanken,
dass das nur ein Wunsch bleiben wird.“
2017 ist sie gestorben. An Tagen wie heute wünschte ich, sie wäre unsterblich und könnte die Geschicke dieser Welt lenken. Liebe und Reibekuchen.
My biggest Hope
is that one day
my Kids look back on their childhood
and know that their mom
didn‘t just love them.
She
truly
enjoyed
them.
Diese Sätze sprangen mir heute Morgen entgegen, als ich
Instagram öffnete.
Ein Reel-Trendsound.
Ich musste schlucken.
Next Level Mutterschaft also: die Kinder nicht NUR lieben,
sondern sie wahrhaft zu genießen. Und zwar so intensiv, dass
sie sich dessen später im Rückblick auf ihre Kindheit gewiss
sind. Ist das meine biggest hope?
Toxische Mutterideale at it‘s best: dieser Reel-Trend wird
unterlegt mit Videos von Kindern, deren perfekt drapiertes
Abendessen auf einer Duplo-Eisenbahn zu ihnen gefahren kommt.
Von Kindern, die in einem aufwändig dekorierten Designerzimmer
schlafen. Von kichernden Kindern im Urlaub am Strand.
Puh.
Meine Kinder sind die bezauberndsten Wesen überhaupt. Ich lieb
sie mehr als alles und würde sie für nichts auf der Welt
hergeben.
Und ja, ich genieße sie: Schlaftrunken kuschelnd an meinem
Hals, glücklich im Wald, miteinander Geheimnisse ausheckend.
Aber nein, ich genieße sie bei Weitem nicht immer. Denn es ist anstrengend und ja, wie hart Elternschaft dich an deine Grenzen bringen kann, wie krass 24/7 Fremdbestimmung sein kann und wie unwägbar Familienleben ist, das hat mir vorher niemand gesagt!
Ich genieße es nicht, permanent Essen zuzubereiten (die
Spülmaschine läuft mindestens 3 mal täglich) und serviere es
nicht auf der elektrischen Duplo-Eisenbahn.
Meine Kinder schlafen nicht im perfekt aufgeräumten
Designerzimmer, sondern in Ikea-Betten von eBay Kleinanzeigen.
4 kleine Menschen in den Schlaf zu begleiten, ist
Höchstleistung.
Und kichernde Kinder im Urlaub am Strand? Haben wir auch
manchmal. Bis eins der Kinder einen Zusammenbruch hat, das
nächste weint und die beiden Kleinsten lebensgefährlichen Unfug
machen.
Ich liebe meine Kinder. Aber nein. Ich genieße sie nicht immer, die Mutterschaft.
Und das ist okay. Normal.
My biggest Hope
is that one day
my Kids look back on their childhood
and know that their mom loved them and did her best.
That she was gracious with herself.
And that because of that, they can be gracious with
themselves.
Because they are good enough.
Always.
„Das.“
Du bist 2 Jahre alt und stehst im Laden vor einem Ständer mit
Einhornshirts.
Pailetteneinhörnern. Wendepailetten. Mit Glitzer. In
Neonfarben.
„Das.“
Ich knie mich neben dich.
Alles in mir findet es furchtbar, dieses Shirt. Die Farben. Die
Glubschaugen. Und
überhaupt, Einhörner.
Aber du liebst sie.
Und du wirst dich in deiner Liebe zu ihnen nicht von mir
beeinflussen lassen,
sondern die nächsten Jahre keine Gelegenheit verpassen, deine
Einhorn-Sammlung
zu vergrößern. Unverkennbar: mein Geschmack ist nicht deiner.
Und es sind nur Kleidungsstücke, denke ich. Es sind nur
Kuscheltiere. Ist doch
egal.
Aber eigentlich ist es mehr. Eigentlich ist es eine der
wichtigsten Lektionen in
meiner Elternschaft, denn die Einhörner machen bewusst: Ich
liebe nicht das
Bild, das ich von dir hatte, bevor ich dich kannte. Ich liebe
DICH.
Ich liebe dich mit deinen Einhörnern und deiner Begeisterung
für Geometrie und
riesige Polyesterkuschelhasen und Pläne und Zitronenkuchen,
obwohl ich mit
alledem nicht sonderlich viel anfangen kann.
Aber ich liebe nicht das Bild, das ich von dir hatte, bevor ich
dich kannte. Ich
liebe DICH.
Und ich muss nicht alles an dir verstehen, um dich zu lieben.
Ich muss nicht
dasselbe toll finden wie du, um deine Begeisterung zu fühlen.
Ich muss nicht
jeden deiner Lebensbereiche abdecken können, um eine gute
Mutter zu sein.
Und genauso musst du nicht irgendwelchen Idealen entsprechen,
um das Kind zu
sein, das ich mir gewünscht habe.
Denn ich liebe nicht das Bild, das ich von dir hatte, bevor ich
dich kannte. Ich
liebe DICH.
Du wirst einen ganz anderen Weg gehen als deine Geschwister.
Einen anderen als
ich. Einen anderen als die meisten Menschen. Und das ist okay,
auch wenn ich mir
oft wünschen würde, der Weg wäre weniger steinig: um
deinetwillen, nicht um
meinetwillen.
Doch ich liebe nicht das Bild, das ich von dir hatte, bevor ich
dich kannte. Ich
liebe DICH.
Du bist einmalig!
In meiner Dorfkindheit gab es eine Art geheimen Kodex, den du
besser befolgt hast. Er handelte von Rolläden, die vor 8 Uhr
morgens hochgezogen wurden, von gepflegten Vorgärten und
Vereinsmitgliedschaft.
Ich hab’s echt versucht. Aber ich bin Langschläfern und mit
Vorgärten hab ichs echt nicht so.
In meiner Jugend gab es eine Art geheimen Kodex, den du besser
befolgt hast. Er handelte von Modetrends, von Coolness und den
ersten Paarbeziehungen.
Ich hab’s echt versucht. Aber ich war eher eine Spätzünderin
und mit Coolness hab ichs echt nicht so.
In meiner Zeit in enger religiösen Kreisen gab es eine Art
geheimen Kodex, den du besser befolgt hast. Er handelte von
Bibellesen vor dem Aufstehen, von Schwarz und Weiß und
diejenigen, die darüber entscheiden durften.
Ich hab’s echt versucht. Aber ich mag Farbe - und hatte
ich das mit dem Langschläferinsein erwähnt?
In meinen Studienjahren gab es eine Art geheimen Kodex, den du
besser befolgt hast. Er handelte von Parties, von
Regelstudienzeit und Lerngruppen.
Ich hab’s echt versucht. Aber während dem Studium wurde unser
erstes Kind geboren und mit Parties und Regelstudienzeit hatte
ichs dann echt nicht so.
In meiner Mutterschaft gab es eine Art geheimen Kodex, den du
besser befolgt hast. Er handelte von Selbstgebackenem, von
Pekipgruppen und schlafenden Kindern.
Ich hab’s echt versucht. Aber für Backen und Gruppen hatte ich
kaum Zeit und mit Schlafen hatte unser Kinder es echt nicht
so.
In den Nachhaltigkeitskreisen meiner Stadt gibt es eine Art
geheimen Kodex, den du besser befolgst. Er handelt von
reduziertem Müll, von nachhaltiger Kleidung und dem Verzicht
auf nicht-faire Elektronik.
Ich hab’s echt versucht. Aber wir haben Windelmüll von 3
Wickelkindern, eins unserer Kinder kann sensorisch nur
bestimmte Kleidung von H&M tragen und mit dem Verzicht aufs
Ipad hab ichs echt nicht so.
Nach dreieinhalb Jahrzehnten unerfüllter Kodexe weiß ich, wer
ich bin - und wer ich nicht bin. Ich passe in kein System, in
kein Klischee. Und das ist okay.
Denn klar: es scheint verlockend, einfach beurteilen zu können,
was richtig und falsch ist, was schwarz und weiß, was „die“ und
„wir“. Unser menschliches Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach
Denksystemen, ist groß.
Doch letztlich ist es zwar nett, Menschen in unserem Leben zu
haben, die uns sehr ähnlich sind.
Aber viel wichtiger ist es doch, Menschen zu kennen, die uns
zurufen:
Ich respektier dich, wie du bist. Auch da, wo du anders bist
als ich. Du bist wichtig.
Und vor allem möchte ich mir das selbst zurufen.
#gutgenug
Düsterwald
Lange Schatten
Glaub an Dich!
wegweisend inmitten des Dunkels
Zuspruch
„Da! Puppi!“
Meine Tochter streckt mir eine Zucchini entgegen. „Puppi!“
Momentan ist für sie fast alles eine „Puppi“, eine Puppe, und es verwundert kaum, dass scheinbar auch eine Zucchini in diese Kategorie gehört.
Tapsende kleine Schritte entfernen sich von mir, um kurze Zeit später wieder zurück zu kehren. Jetzt hat meine Tochter die Puppentrage geholt und drückt sie mir mit aufforderndem Gesichtsausdruck in die Hand. „Dagen!“
„Du möchtest die Zucchini in der Trage tragen?“
„Da. Ja.“
Und tatsächlich erfährt die Zucchini dann so viel Geborgenheit und Liebe wie nie zuvor ein Gemüse.
Ich stehe vor dem Spiegel im Flur und zupfe an meinem Kleid herum. Es ist pink. Ich mag kein pink an mir: damit sehe ich aus, als würde ich einen Magen-Darm-Infekt ausbrüten. Zumindest wurde mir das mal so gesagt.
Ich drehe mich zur Seite. Lege die Hände auf meinen Bauch. Schon zwei mal wurde ich in diesem Kleid gefragt, ob ich schwanger sei. Aber ich war es nicht. Ist es vorteilhafter, wenn ich vielleicht eine Strickjacke drüber ziehe?
Unser fünfjähriger Sohn kommt in den Flur gerannt und bleibt neben mir stehen. Betrachtet sich kurz im Spiegel, seufzt zufrieden und grinst. „Ich bin echt einfach ein Toller“, sagt er und greift nach seinen Schuhen, um in den Garten zu gehen.
Ich schaue ihm hinterher. Wann hat sich das eingeschlichen, dass andere Menschen so viel Macht darüber haben, was ich beim Blick in den Spiegel sehe?
Als ich, 9 Jahre alt, stolz mit meinem neuen Eros-Ramazotti-Fanshirt in die Schule ging und dafür ausgelacht wurde?
Als ich im Teenageralter registrierte, dass fast alle Frauen in meinem Umfeld Diäten machten, und ich Sport von nun an nur noch mit Abnehmen assoziierte?
Als ich ein Jahr nach der Geburt unseres ersten Kindes viele Komplimente dafür bekam, viel Gewicht verloren zu haben, aber ich die fehlenden Kilos liebend gerne eingetauscht hätte gegen weniger Anstrengung und Sorgen, die der Grund für diese schnelle Abnahme gewesen waren?
Als ich mir ein Kleid kaufte, wunderschön und gemütlich und pink, und es nicht anzog, weil Andere ein Urteil über Farbe und Form fällten?
Es sind internalisierte Bewertungen Anderer, die ich da im
Spiegel sehe.
Möchte lieber bloß mich selbst sehen.
Mich liebevoll, wohlwollend und wertschätzend betrachten.
Nur Dinge zum Maßstab für meinen Körper und meine Kleidung
machen, die ich selbst als relevant erachte.
Gut zu mir sein.
Ich nehme meine Jacke vom Haken, ziehe sie an und lasse den Reißverschluss offen. Zeige meinem pinken Kleid die Welt.
Ich stehe neben deinem Bett und schaue in dein schlafendes
Kindergesicht. Wie
dankbar ich bin, dass du noch so klein bist und dass wir hier
in Deutschland
sind. Ein paar Kilometer weiter und 10 Jahre älter, denke ich,
wären wir jetzt
vielleicht nicht zusammen.
Und alles wäre anders.
Wie verrückt das ist, dass von dir erwartet würde, zu kämpfen,
nur weil du ein
Junge bist. Mein kleiner großer Junge.
Das Patriarchat, habe ich neulich hier auf Instagram gelesen,
zeigt im Krieg sein
hässliches Gesicht auch denen gegenüber, von denen erwartet
wird, zu kämpfen.
Männern. Jungen, oft beinahe noch.
Ich denke an ein paar der vielen Begegnungen, die wir die
letzten Jahre hatten:
Wie du deine Puppe im Tragetuch herumtrugst, 3 Jahre alt und
stolz, und du von
einem Bekannten gefragt wurdest, ob du wirklich die Puppe
tragen willst wie ein
Mädchen. „Nein, er trägt die Puppe, wie sein Papa sein
Babygeschwisterchen
trägt“, sagte ich damals.
Oder wie du neulich mit mir in der Stadt warst und zu mir
sagtest, dass du
spüren würdest, wie die Liebe zu deinem Erdbeereis fest in
deinem Bauch
flatterte, und du deswegen - trotz Hut, der deine langen Haare
versteckt hielt -
für ein Mädchen gehalten wurdest, „weil Jungs ja eigentlich
nicht so
reden“.
Die Liste solcher Kommentare ist beinahe unendlich.
Wir wollen, dass ihr friedfertige, fürsorgliche Erwachsene
werdet, und gestehen
euch gesellschaftlich doch oft nicht zu, wirklich fürsorglich
und weich zu sein.
Wie würde eine Welt aussehen, in der das anders
wäre?
Gebt den Jungs Liebe und Puppen und der Frieden stellt sich
ganz von allein ein?
Nein, sicher nicht.
Aber ein Anfang wäre es vielleicht.
Vor ein paar Wochen standen wir an der Supermarktkasse, unser mittleres Kind und ich. Er fuhr mit der Hand über die Rollen, die angebracht waren, um bereits gescannte Waren weiter zu befördern, damit sie eingepackt werden können. Immer und immer wieder rollte er mit der Hand darüber, schloss die Augen und genoss, wie es sich anfühlte. Beobachtet von der Kassiererin, die über sein Gerolle die Stirn runzelte und harte Mundwinkel bekam.
„Hast du kein Spielzeug zuhause, dass du jetzt hier mit den Rollen spielen musst?“, fuhr sie ihn plötzlich scharf an. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, lächelte mein Kind die Kassiererin an und antwortete freundlich „Ja, doch, zuhause hab ich viel schönes Spielzeug. Hast du denn keins? Wenn du möchtest, komm doch vorbei und wir können zusammen spielen. Ich wohne in der Hausnummer 6!“
Ihr entglitten die Gesichtszüge.
Pause.
Zögern.
„Ja, das wäre schön“, sagte sie und lächelte.
Weihnachten. Das trotzig Hoffende. Das naiv Sanftmütige. Das waghalsig Glaubende: Dass es immer Sinn ergibt, daran zu festzuhalten, dass die Welt friedlicher werden kann. Und dass das, was ich dazu beitragen kann, nie zu klein ist, um einen Unterschied zu machen.
„Mach doch mal eine Karte zum Thema Ambiguitätstoleranz“, sagte
meine Freundin. „Ich würde mir die sofort hinhängen.“
Ich war nicht so ganz überzeugt von dem Gedanken, 200 Karten
mit dem Thema „Ambiguitätstoleranz“ drucken zu lassen und dann
darauf zu vertrauen, dass genug Menschen diesen Begriff in die
Etsy-Suche eingeben und genau auf diese Karte stoßen
würden.
Aber ja. Sie hatte schon recht. Manchmal können wir Limonaden
aus den Zitronen des Lebens machen. Manchmal ergeben die Dinge
Sinn, auch wenn ich es grad nicht verstehe. Und manchmal reicht
es, den eigenen Träumen zu folgen, und der Rest ergibt sich von
selbst. Manchmal stimmen alle diese Sätze, die ich oft auf
Karten lese.
Aber manchmal eben auch nicht. Manchmal gibt es nur schlechte Optionen. Manchmal kann ich blöde Situationen nicht ändern und muss trotzdem irgendwie da durch. Manchmal muss ich Gegensätze aushalten. Manchmal widersprechen sich Bedürfnisse. Das „sowohl als auch“ des Leben: Ambiguitätstoleranz!
Die Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick haben | aber nicht immer genug Ressourcen haben, um allen gerecht zu werden.
Alle Parteien irgendwie ungünstig finden | aber mich trotzdem bei der Bundestagswahl für eine entscheiden.
Finden, dass mein Körper von den Schwangerschaften echt ziemlich mitgenommen aussieht | und ihn gleichzeitig dafür feiern, was er da ausgehalten hat und jeden Tag aushält.
Leggins von H&M für ethisch problematisch halten | und ein Kind haben, das nur diese anziehen kann.
Raum für mich und Pause von den Kindern brauchen | und sie gleichzeitig vermissen.
So viel Unperfektion, oder? Aber Ambiguitätstoleranz kann auch
so frei machen.
Sie schafft Graustufen in einem Raum von schwarz und
weiß.
Ambiguitätstoleranz:
Kein „Jeder Regen ist eine Gelegenheit, darin zu tanzen“,
sondern ein „die Sonne mag ich lieber, aber ich hab ja meine
Regenjacke eingepackt. Und sie hat Punkte.“
Ich halte sie oft kaum aus, die Parallelität des Lebens.
Hier darf ich packen, um in den Urlaub zu fahren. Dort fürchten Menschen um ihr Zuhause, weil das Feuer tobt.
Hier streiten wir, weil wir morgens nicht rechtzeitig aus dem Haus kommen. Dort klammern sich Menschen verzweifelt von außen an Flugzeuge und stürzen in den Tod.
Hier überlebt mein Kind, weil wir eine gute medizinische Versorgung haben. Woanders wäre es nicht so.
„Mama, warum lachst du nicht?“, fragt mich eins meiner Kinder. „Wir essen doch ein Eis, das ist doch das schönste Leben!“
Ich bin überfordert mit dieser Parallelität. Wie kann Alltag gelingen in dem Wissen, dass dieser Alltag das größte Privileg ist? Wie kann Alltag gelingen im Wissen um die Zerbrechlichkeit der vermeintlichen Selbstverständlichkeiten? Wie kann Alltag gelingen im Spagat zwischen Gedanken an „dort“ und der Notwendigkeit, im Hier und Jetzt für meine Kinder da zu sein? Und das, wo „für sie da sein“ doch auch bedeutet, sich zu engagieren, um ihnen eine Zukunft zu ermöglichen, die hoffentlich nicht allzu schwarz sein möge.
Abgrenzung, ohne das Herz zu verlieren.
Das Leben im Kleinen herrlich finden und im Großen beängstigend.
Den Alltag anstrengend finden dürfen und gleichzeitig um das Geschenk wissen, das er ist.
Hilflosigkeit fühlen und nicht tatenlos bleiben.
An der Welt verzweifeln und doch Hoffnung haben.
Parallelität.